Eigentlich ist die Frage schnell beantwortet. Alle drei Länder wurden im Laufe der letzten tausend Jahre für viele Jahrhunderte von einem benachbarten „Bruderland“ regiert. Dänemark und später Schweden in Norwegen, Großbritannien oder England in Irland und Russland als Zarenreich oder später als Teil der Sowjetunion in der Ukraine, wobei dort noch andere Nachbarländer in verschiedenen längeren Zeiträumen aufzuzählen wären, wenn man wirklich die letzten tausend Jahre anschaut.
In allen Fällen glauben viele aus der Ferne, dass die beiden jeweiligen Bruderländer sehr ähnlich seien. Man nimmt wahr, dass die Sprache (fast) gleich ist, die Leute (fast) gleich aussehen und dass es auch sonst noch einige Ähnlichkeiten gibt, die noch etwas über das hinausgehen, was in ganz Europa ähnlich ist. Darüber zu schreiben bringt nichts, man kann es selbst erleben, wenn man mit offenen Augen reist oder Leute aus diesen Ländern trifft. Fragt man die Leute in den betreffenden Ländern, wird man feststellen, dass sie sich als Iren, Ukrainer und Norweger fühlen und natürlich nicht als Briten, Russen und Dänen oder Schweden. Es sei denn man hat zufällig einen Briten, Russen, Dänen oder Schweden erwischt, der in dem jeweiligen Land lebt (vielleicht sogar eingebürgert) und sich aber weiterhin als Brite, Russe, Däne oder Schwede fühlt.
Nun kommt die Frage der Sprache auf. In allen drei Fällen hat die Zeit in dem gemeinsamen Staat mit dem „großen Bruder“ ihre Spuren in der Sprache hinterlassen.
In Irland wurde die irische Sprache fast vollständig von der englischen Sprache verdrängt. Nur noch eine Minderheit spricht Irisch als Muttersprache, aber alle lernen es in der Schule und es ist offizielle Landessprache. Immerhin soll heute knapp die Hälfte der Iren die „eigene“ Sprache beherrschen, auch wenn Englisch die Muttersprache war und im Alltag dominiert. Man hat aber viel getan, um die Irische Sprache wiederzubeleben. Das ist eine keltische Sprache. Die Kelten haben einmal weite Teile von Europa besiedelt, nicht nur Frankreich, Irland und England. Man denke nur an die Galater auf dem Gebiet der heutigen Türkei. In England ist die keltische Sprache verschwunden und durch das Englische verdrängt worden, in Schottland und Wales gibt es aber noch ein paar Sprecher. Irisch ist eine indogermanische Sprache und man erkennt vielleicht eine entfernte Ähnlichkeit zu anderen indogermanischen Sprachen, aber die Ähnlichkeit zwischen Irisch und Deutsch oder Englisch ist gefühlt auf den ersten Eindruck etwa so groß wie die Ähnlichkeit zwischen Deutsch und Russisch.
In der Ukraine hat sich in verschiedenen Gebieten die russische Sprache auch unter Ukrainern verbreitet. Im Westen wird überwiegend Ukrainisch gesprochen. Aber in Kiew hört man mehr Russisch als Ukrainisch, wohlgemerkt von Ukrainern und nicht nur von der großen Russischen Bevölkerungsgruppe, die in dem Land lebt. Nun ist Ukrainisch die einzige offizielle Landessprache. Beschriftungen, Wegweiser, Beschreibungen in Museen sind nur auf Ukrainisch oder wenn eine zweite Sprache dazu genommen wird, auch auf Englisch. Es wird als wichtig empfunden, die ukrainische Sprache zu können, auch für diejenigen, die mehr Russisch sprechen.
In Norwegen spricht man natürlich Norwegisch. Das ist aber eine kompliziertere Sache als man denkt, weil die gesprochene Sprache, zumindest das „richtige“ gesprochene Norwegisch Dialekte sind. Diese sind verschieden und man kann lernen, ein großes Spektrum an Dialekten zu verstehen. Geschrieben wurde auf Dänisch. Das war die Schriftsprache in diesem dänisch-norwegischen Staat mit Kopenhagen als Hauptstadt. Es war ähnlich genug, um es leicht zu lernen, aber wie bei Deutsch oder Italienisch natürlich nicht identisch mit den jeweiligen Dialekten. Heute kann man Norwegisch als „Bokmål“ schreiben, das sich 200 Jahre von Dänisch getrennt entwickelt hat und leichte Unterschiede aufweist. Oder als Nynorsk, das man aus den Dialekten konstruiert hat. Es gibt beide Sprachen als Wikipedia. Beides sind Landessprachen. Und man lernt beides in der Schule. Nynorsk wäre einfacher, weil es näher an der gesprochenen Sprache ist. Aber Bokmål hat so einen großen Vorsprung, weil Bücher und Zeitungen überwiegend in Bokmål erscheinen. Vielleicht gerade weil das Verhältnis mit den Nachbarländern entspannt ist und Norwegen ein gut funktionierendes Land ist, dessen Bewohnern es gut geht, wird die Wichtigkeit der Nynorsk-Sprache für die Identität nicht überall als so wichtig empfunden.
Grundsätzlich kann man aber in allen drei Ländern Menschen finden, die die eigene Sprache als wertvoll und wichtig für die Identität empfinden. Hier zeigt sich auch ein bedeutender Unterschied. Ich habe viele Iren getroffen, die die Irische Sprache als Ballast empfunden haben. Und Norweger, die sich so ähnlich über Nynorsk geäußert haben. Aber alle Ukrainer, die ich getroffen habe, hatten eine postive Meinung über die ukrainische Sprache.
Was man bei den drei Ländern sehen kann: Norwegen hat heute ein gutes Verhältnis zu Dänemark und Schweden. Es mag Witze über das jeweils andere Land geben. Und wegen irgendwelcher konkreter Themen auch mal Verstimmung. Aber ich glaube nicht, dass sich Dänen oder Schweden gegenüber Norwegen als „großer Bruder“ aufführen wollen, sondern dass sich die drei Länder eher als gleichberechtigt untereinander verstehen. Das ist vorbildlich.
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