Es ist witzig, wie sich irgendwelche lokalen „Rekorde“ ins Bewusstsein einschleichen. Ich kann mich erinnern, dass in Schleswig-Holstein einmal bekannt war, dass die Rolltreppen zum Fußgänger- und Radfahrertunnel mit einem Höhenunterschied von 28 Metern die längsten in Europa oder sogar in der Welt seien. Zweifel kamen auf, weil zum Beispiel ein Maastunnel in Rotterdam oder ein Scheldetunnel in Antwerpen gefühlt viel längere Rolltreppen hatte, aber das kann täuschen. Schaut man sich genauer um, so findet man aber, dass diese Aussage mit der längsten Rolltreppe Europas einfach absurd falsch ist.
In vielen Orten der ehemaligen Sowjetunion war es üblich, Metrolinien oder zumindest einzelne Stationen sehr tief unter der Erde zu bauen. Offensichtlich hat man diese Technologie beherrscht. Und weder Baukosten noch der höhere Aufwand für die Benutzung haben davor abgeschreckt, gelegentlich so zu bauen. Ob der Grund in instabilen oberflächennahen Schichten lag, wie man im Fall von Sankt Petersburg gelegentlich hört, in der Verwendbarkeit als Schutzraum, wie man z.B. im Fall von Moskau hört, will ich nicht beurteilen. In Moskau soll es gemäß Gerüchten noch ein zweites kleineres Metro-System geben, das noch weit unterhalb der öffentlichen Metro liegt und mit dem die Evakuierung der damaligen sowjetischen Führungselite im Notfall ermöglicht worden wäre.
In Kiew ist das Gelände, auf dem die Stadt steht, so bergig, dass eine Metro diese Höhenunterschiede nicht auf den kurzen Distanzen bewältigen kann. Das ist das einzige Argument, das wirklich zweifelsfrei zutrifft, während es in den anderen Fällen stimmen mag oder nicht. Die zur Zeit tiefste Metrostation der Welt ist Арсенальна (Arsenalna) in Kiew liegt 105.5 Meter unter der Erdoberfläche. Man erreicht sie mit zwei Rolltreppen, von denen die längere mindestens 52 Höhenmeter Unterschied bewältigen muss. Andere Metro-Stationen in Kiew, wie z.B. Золоті ворота (Soloti Worota / Goldenes Tor) liegen auch etwa 100 Meter unter dem Boden, so dass die längere der beiden Rolltreppen mindestens 50 Meter lang sein muss. Es gibt auch ebenerdige Stationen oder solche, die nahe der Oberfläche liegen, was einfach von der Topographie abhängt. Rolltreppen in Metrostationen in Kiew und Sankt Petersburg laufen etwa doppelt so schnell wie man es in westlichen Teilen Europas gewohnt ist. Trotzdem hat man bei den tiefsten Stationen mal um die 5 Minuten allein für die Rolltreppen.
Man sieht also ganz klar, dass diese schönen lokalpatriotischen Rekorde schlicht und einfach erfunden wurden oder von Leuten in Umlauf gesetzt wurden, die nicht ernsthaft recherchiert hatten. Aber jeder hat es geglaubt, es wurde in Schulen unterrichtet u.s.w. Es gibt viele derartige Beispiele. Der „größte Wasserfall in Europa“ befindet sich gemäß vielen Schweizern in Neuhausen. Weniger gebildete Ausländer meinen, dass er in Schaffhausen sei, das direkt daneben liegt. Da Island zu Europa gehört und es dort wesentlich größere Wasserfälle gibt, sollte man darüber noch einmal nachdenken. Der Rheinfall ist ein bekannter Wasserfall, er ist schön und er ist mitten in einem dicht besiedelten Gebiet für viele Menschen leichter zu erreichen als der Dettifoss.
Manchmal gibt es einfach mehrere Methoden zur Ermittlung des Rekords. So kann man mehrere Jahrhundert-Rekordsommer in dichter Folge haben, weil auf verschiedene Arten gemessen wird und für jede Metrik ein anderer Sommer der wärmste ist. Das ändert natürlich nichts daran, dass es eine Klimaerwärmung gibt, die man erkennen kann, wenn man über viele Jahre mit derselben Metrik misst.
Ein anderes interessantes Beispiel war eine Übungsaufgabe, die in einem Institut in einer guten deutschen Universität jedes Jahr gestellt wurde. Die Studenten sollten die Höhe des Institutsgebäudes messen. Man schrieb einfach von älteren Studenten ab und die Assistenten benutzten auch die Musterlösung von vor Jahren zur Korrektur. Dann kam ein neuer Assistent und machte sich die Mühe, alles nachzumessen.
So bekamen nun alle Studenten ohne Ausnahme 0 Punkte statt der vollen Punktzahl, wie sonst immer. Denn die Höhe stimmte nicht. Das war nun natürlich interessant, dass alle jahrelang mit falschen Werten arbeiteten. Die Frage war also, woher das „Gerücht“ kam. Tatsächlich hat jener Assistent das interessant gefunden und recherchiert. So war der herumkopierte Messwert viele Jahre früher völlig korrekt ermittelt worden. Aber man hat dann das Gebäude noch um ein Stockwerk erhöht. Ab da stimmten die Werte nicht mehr, aber es hat niemand daran gedacht oder es hat sogar niemand gemerkt.
Auch in Zeiten von Onkel Donald ist das Konzept der Wahrheit nicht abgeschafft. Aber früher wie heute ist es gut, wenn man selber denkt, gelegentlich Dinge hinterfragt und nicht einfach blind alles glaubt, was einem vorgesetzt wird.
Übrigens ist die Батьківщина-Мати (Mutter der Heimat) in Kiew wesentlich größer als die Statue of Liberty (Freiheitsstatue) in New York. Wer hätte das gedacht?