Einwohnerzahlen

Die Frage stellt sich wohl häufig, ab welcher Einwohnerzahl sich ein U-Bahn-System, ein S-Bahn-System, eine Anbindung an eine Hochgeschwindigkeitsstrecke oder überhaupt eine gewisse Qualität der Bahnanbindung lohnt.

Leider ist die Einwohnerzahl, wie man sie im deutschen Sprachraum versteht, eine ziemlich unsinnige Zahl, weil sie sich auf Gemeindegrenzen bezieht, die völlig willkürlich und gemessen an den heutigen Siedlungsstrukturen und Verkehrsströmen geradezu absurd verlaufen. In Schweden und Norwegen gibt es Gemeinden, de 100 km Durchmesser haben und mit dem Zentralort alle Orte in der näheren und sogar weiteren Umgebung enthalten. Brüssel hat dagegen nur 163’000 Einwohner. Die Einwohnerzahl der politischen Gemeinde ist eine abgesehen von seltenen Spezialzwecken völlig unrelevante und uninteressante Zahl. Man kann einmal in Deutschland schauen, welche Orte stündliche ICE-Verbindungen oder echte IC-Verbindungen haben. Echte IC-Verbindungen sind solche wie von Hamburg zum Ruhrgebiet, aber nicht ehemalige D-Züge oder IR-Züge, die man vor ein paar Jahren in ICs umbenannt hat, sagen wir mal mit durchschnittlich weniger als 2 Halten auf 100 km. Orte wie Bielefeld, Göttingen, Erfurt oder Ulm, die zufällig an einer IC/ICE-Strecke liegen, muss man anders einordnen als Orte wie Stuttgart, Hamburg oder Frankfurt, die auch als eigenständige Ziele einen sicheren Platz in dem Netz haben, da ja vergleichbar große Orte wie Kiel oder Lübeck oder Rostock keine stündlichen IC/ICE-Verbindungen haben. Vielleicht gibt es etwa 15 Ballungsräume, die als Quelle und Ziel wichtig genug für eine eigene Anbindung sind, nicht nur für einen Unterwegshalt, weil sie zufällig auf der Strecke liegen:

  • Rhein-Ruhr-Köln-Bonn (was man eventuell noch aufteilen könnte in Rhein-Ruhr, Köln-Bonn oder noch mehr Teile)
  • Rhein-Main
  • Berlin
  • Hamburg
  • München
  • Halle-Leipzig
  • Rhein-Neckar (Mannheim/Heidelberg/Ludwigshafen)
  • Stuttgart
  • Nürnberg
  • Dresden-Meißen
  • Hannover-Braunschweig-Salzgitter
  • Bremen
  • Karlsruhe
  • Basel

Basel ist eindeutig ein wichtiges Ziel, mit zum Teil sogar mehr als einem ICE pro Stunde. Demnächst wird eine der wenigen längeren viergleisigen Bahnstrecken in Deutschland von Karlsruhe nach Basel führen. Dabei hat die Stadt 0 Einwohner, wenn man sie als deutschen Ballungsraum zählt, weil die Einwohner von Basel alle in der Schweiz wohnen. Oder selbst wenn man die Einwohner von Basel in der Schweiz zählt, wesentlich weniger als Kiel oder Lübeck. Und da ist noch eine Grenze dazwischen, die die Verkehrsströme normalerweise eher verringert als vergrößert. Von Frankfurt nach Paris fahren nur ein paar ICEs und TGVs am Tag. Und die Vororte von Basel auf der deutschen Seite der Grenze haben sicher ein paar 10’000 Einwohner.

Gerade im Zusammenhang mit Verkehrsthemen bräuchte man eher so etwas wie eine technische Einwohnerzahl, mit der man dicht besiedelte Gebiete unabhängig von Gemeindegrenzen charakterisieren kann. Die Norweger und Schweden haben einen sinnvolleren Begriff eingeführt: Tätort. Man definiert das durch ein zusammenhängendes Gebiet mit einer Mindestbesiedlungs- oder Bebauungsdichte. Ein bisschen Willkür ist wohl immer noch dabei, aber damit hat man schon eine viel nützlichere Größenangabe als die absurde Einwohnerzahl der politischen Gemeinde. Man könnte vielleicht noch bessere Definitionen für die technische Einwohnerzahl finden, aber letztlich ist die Komplexität auch zu groß, um sie mit einer Zahl vollständig zu erfassen. Jedenfalls gefällt mir dieser Tätort-Begriff schon gut, wenn man eine einzelne Einwohnerzahl kennen will.

Für die Frage, welche öffentlichen Verkehrsmittel sich für eine solche dicht besiedelten Gebiete lohnen, kommen aber noch andere Aspekte hinzu. In der Schweiz, Japan und Weißrussland benutzen die Leute sehr viel die Bahn und öffentliche Verkehrsmittel. So kann man Einwohnerzahlen aus der Schweiz etwa mit 3 oder 4 oder sogar 5 multiplizieren, um sie mit deutschen Einwohnerzahlen zu vergleichen, wobei beide Länder wieder heterogen sind, was die diesbezüglichen Gewohnheiten betrifft.

Es gibt Ballungsräume, die planerisch oder durch geografische Umstände gewissen Achsen folgen. Man muss nur innerhalb dieser Achsen U-Bahnen, S-Bahnen, Straßenbahnen oder Nahverkehrsstrecken bauen und kann einen großen Teil der Einwohner der Region mit kurzen Wegen zum Bahnhof anbinden. Beispiele dafür sind Kopenhagen oder Städte mit einem See oder in Gebirgstälern. Ålesund mit seinen Nachbar-Tätorten in Norwegen ist auch sehr linienförmig, weil es auf länglichen Inseln und Halbinseln liegt, die sich in Ost-West-Richtung erstrecken, aber da ist die Gewohnheit, öffentliche Verkehrsmittel zu benutzen, nicht so etabliert.

Es gibt Ballungsräume, wo nur die öffentlichen Verkehrsmittel wirklich überhaupt in der Lage sind, ansatzweise das Verkehrsaufkommen zu bewältigen, wie beispielswiese New York, Moskau, Tokyo oder Hong Kong. Eigentlich fast alle monozentrischen Ballungsräume mit mehreren Millionen Einwohnern. Sogar in Los Angeles hat man den Ansatz, ausschließlich auf eine autogerechte Stadt zu setzen, aufgeben müssen und mit viel Aufwand den Aufbau eines U-Bahn-Netzes begonnen.

Eine Rolle spielt es auch, ob ein Gebiet Arbeitsplätze, Einkaufsmöglichkeiten und Ausbildungsstätten für seine Einwohnerzahl bietet oder auch für ein größeres Umfeld. In dem Fall sind in dort an durchschnittlichen Tagen sehr viel mehr Menschen unterwegs als die Einwohnerzahl suggerieren würde.

Und um auf das Beispiel von Basel zurückzukommen: Grenzen wirken gerade im Bahnverkehr normalerweise sehr hemmend, wenn sie gleichzeitig Sprachgrenzen sind. Dagegen findet der Bahnverkehr zwischen Deutschland und Schweiz in einem Umfang statt, wie es sonnst nur innerhalb eines Landes üblich ist. Dabei mag helfen, dass die Eisenbahner leichter zusammenarbeiten können, aber auch dass die Reisenden sich trotz Schweizerdeutsch auf der anderen Seite der Grenze noch gut verständigen können.

Die Frage bleibt also kompliziert. Eine sinnvollere Größe als die Einwohnerzahl der politischen Gemeinde zu verwenden ist sicher richtig, aber die Komplexität der Thematik ist auch mit einer einzigen Zahl, auch wenn sie sinnvoll ermittelt wird, noch lange nicht zu erfassen. Die technische Einwohnerzahl muß wohl mindestens mehrdimensional sein.

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